Diese Folge haben wir eher als Lückenfüller aufgenommen, da wir mit den Vorbereitungen zur Reihe über Kommunikation noch immer nicht fertig waren. Dementsprechend inhaltsleer ist die Folge auch 🤷
Wir reden darüber, wie Zeit eine begrenzte Ressource in Polyamorie ist und dass jeder Tag nur 24 Stunden hat. Bei unserem Gespräch, wie man allen Partner*innen zeitlich gerecht werden kann, idealisieren wir aber wieder sehr. Und natürlich muss man sich vorher bewusst sein: Polyamorie braucht Zeit – die dann eventuell von der eigenen Quality Time abgeht! ⏰
Im zweiten Teil sprechen wir viel über unsere Dreierkonstellation zu dieser Zeit und unser eigenens Zeitmanagement. Mir war zu dieser Zeit selbst noch nicht bewusst, wie sehr ich mich anstrengen muss, um Marcel in meinem Leben zu ertragen. Diese Anstrengung konnte auf Dauer nicht funktionieren. 👎
Ein Logikfehler ist mir auch aufgefallen: Jeany sagt, sie möchte keine Beziehung, in der ihre beiden Partner keine Zeit miteinander verbringen wollen. Wie weit entfernt ist diese Haltung aber von einem Veto? Wenn der Nestpartner den neuen Partner nicht mag (und deshalb keine Zeit verbringen will) ist es effektiv ein Veto gegen die Beziehung von Jeany und dem Neuen. Und wenn Jeany die Beziehung dann trotzdem eingeht, entscheidet sie sich aktiv gegen den Nestpartner 🤔
Stimmst du dem zu oder habe ich hier einen Denkfehler gemacht? Wie managst du Zeit in deinen Beziehungen? Und bleibt dabei genug Zeit für dich? Schreibs mir in die Kommentare 🖋
Hinge-Blindheit
Ich wurde letzte Woche heftig von etwas verletzt, was eine Freundin Hinge-Blindheit nennt, und will euch davor warnen, wie gefährlich Hinge-Blindheit ist. Hinge-Blindheit ist ein besonderes Problem der Theory of Mind.
Der Hinge ist hier die mittlere Person in einem V-Polykül. Die anderen zwei sind die Arme, die Metamours voneinander sind.
Hinge-Blindheit tritt bei Menschen auf, die super-enthusiastisch über Küchentischpolyamorie sind und sich wünschen, dass alle ihre Partner*innen sich untereinander super verstehen, aber im Moment zwei Partner haben, die untereinander völlig Fremde sind (vielleicht weil eine Person neu ist). Hinge-Blindheit ist Wunschdenken, diese Vision mit der Wirklichkeit zu verwechseln.
Der Hinge hat zu beiden seinen Partner*innen ein sehr vertrautes und intimes Verhältnis und kann sich einfach nicht vorstellen, dass die beiden untereinander eben nicht dieses hohe Maß an Vertrauen und emotionaler Nähe haben. Dass sie vielleicht erst mal zurückhaltend und distanziert sind. Für ihn ist es logisch: “aber ich vertraue euch doch beiden! Wie könnt ihr einander nicht vertrauen!”
Hinge-Blindheit ist oft keine bewusste Haltung, sondern eher eine unbewusste, implizite Annahme: der Hinge geht davon aus, ohne so genau drüber nachgedacht zu haben, und es prägt alle seine Handlungen. Es ist ein blinder Punkt. Das macht es so besonders schwer, sie dem Hinge gegenüber anzusprechen und drauf aufmerksam zu machen. Oft wird er abstreiten, sie überhaupt zu haben.
Hinge-Blindheit äußert sich in folgenden Merkmalen:
- überzogener Optimismus, inwiefern Gruppensituationen gut funktionieren können ohne jegliches Risikobewusstsein. Der Hinge hält es zum Beispiel für völlig unproblematisch, zwei fremde Arme zu einem gemeinsamen Urlaub einzuladen.
- rosarote Brille: der Hinge glaubt an Küchentischpolyamorie, auch wenn verschiedene Umstände nahelegen, dass sie eher unwahrscheinlich sind. Der Hinge kann einen Partner haben, der Menschen im Allgemeinen auf Abstand hält, misanthropisch und verbittert ist und Menschen misstraut, und nur für den Hinge eine Ausnahme macht, weil der Hinge ihn nach langen Jahren emotionaler Gespräche aus seinem Schneckenhaus gelockt hat … und trotzdem annehmen, dass dieser Arm einen lockeren ungezwungenen Umgang mit dem anderen Arm haben wird. Der Hinge sieht alle seine Partner so, wie sie sich ihm gegenüber verhalten und nicht, wie sie sich anderen gegenüber verhalten. Er kann sich auch nicht in andere Menschen hineinversetzen und wirklich modellieren, wie andere Leute seine Partner wahrnehmen, wenn sie eben keine rosarote Brille tragen.
- Privatsphäre, Teil 1: der Hinge neigt dazu, intimere Details aus dem Leben eines Arms mit dem anderen Arm zu teilen. Nicht aus bösem Willen, sondern aus der unhinterfragten Annahme, dass wir alle eine große glückliche Familie sind, die sich gegenseitig unterstützt.
- Privatsphäre, Teil 2: wenn der Hinge mit einem Arm in seinem Schlafzimmer ist und der andere Arm schon vermutet, dass sie intim sind und auf jeden Fall eine Situation vermeiden will, sie in flagranti zu erwischen und damit die Privatsphäre des anderen Arms zu verletzen, und daher erst mal vorsichtig an die Tür klopft und abwartet, dann antwortet der Hinge spontan “ja” und lädt den Arm vor der Tür dazu ein, das Zimmer zu betreten. Der Arm nimmt an, dass es sicher ist, gerade alle bekleidet sind und keine Dinge tun, für die sie sich Privatsphäre wünschen … und findet den Hinge und den anderen Arm nackt und engumschlungen im Bett vor. Warum hat der Hinge spontan ja gesagt? “Du bist mein Partner und du bist jederzeit in meinem Zimmer willkommen.” Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass diese Situation für beide Arme extrem unangenehm sein könnte. Er hat ja mit beiden Armen Sex und daher sollten sie mit Sex auch jederzeit komfortabel sein.
- Körperautonomie: Der Hinge ist in einer innigen Umarmung mit einem seiner Partner. Der andere Partner läuft vorbei. Der Hinge meint es zwar gut – er denkt sich, dass der vorbeiwandernde Partner vielleicht Eifersucht verspüren könnte und will ihm Sicherheit und Bestätigung geben – aber löst es auf eine sehr unangenehme Art: er zieht den vorbeiwandernden Partner in eine Gruppenumarmung und drückt ihn gegen den anderen Partner, einen völlig Fremden, ohne sich zu überlegen, wie die zwei zu Körperkontakt untereinander stehen mögen.
- Druck: der Hinge setzt die beiden Arme unter Druck, miteinander auskommen zu müssen. Erzwungene Küchentischpolyamorie.
- Noch mehr Druck: der Hinge sieht es als verletzend, wenn die Arme sich gegenseitig nicht vertrauen. Er sieht es als Misstrauen ihm gegenüber und seiner Menschenkenntnis und seinem Urteilsvermögen bei der Partnerwahl. Er sagt Dinge wie “glaubst du wirklich, ich würde mir Partner suchen, denen man nicht vertrauen kann? Ich kann nicht fassen, dass du sowas von mir denkst.”
- Der Hinge hat eine naive Vorstellung dazu, was ausreicht, dass zwei Menschen sich gegenseitig mögen. “Aber ihr habt ähnliche Wertevorstellungen, ihr müsst euch doch mögen!” oder “aber ihr habt einige Gemeinsamkeiten, ihr müsst euch doch mögen!”
Die Folgen von Hinge-Blindheit können weitreichend sein.
Hinge-Blindheit löst in beiden Armen Verunsicherung, Bedrängungsgefühle, Gefühle des Kontrollverlusts, Demütigung, Scham und so weiter aus. Wenn man das damit kombiniert, dass das Verhältnis in einem V sowieso schon wegen Eifersucht angespannt sein kann, kann eine Situation mit Hinge-Blindheit ganz schnell den Bach runtergehen und einen Scherbenhaufen aus verletzten Menschen zurücklassen. Es führt auch sehr schnell zu Groll, Missgunst und Antipathie zwischen den beiden Armen – also führt zum genauen Gegenteil der idealistischen Küchentischpolyamorie-Vision. Das Risiko ist nochmal höher, wenn einer der beiden Arme sehr unerfahren in Polyamorie ist und gar nicht merkt, dass der Hinge sich hier falsch verhält, weil die Person gar kein Modell und positives Vorbild davon hat, wie ein Hinge sich verhalten sollte.
— Beitrag von Clarissa Lohr in der Facebook-Gruppe Polyamorie & Beziehungsvielfalt (Hervorhebungen im Original)
Flo
Flo hat Mental Anarchy 2020 gegründet und schreibt über Polyamorie, Beziehungen und psychische Gesundheit. Er ist pansexuell, Zen-Buddhist und lebt vegan.